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Subakh ul kuhar, Muad'dib! Geht es dir gut? Bist du da draußen?
Fremen-Lied an den Wind und den Sand
Er brauchte die Wüste, den unermesslichen Ozean ohne Wasser, der den größten Teil des Planeten bedeckte. Er war zu lange in der Stadt gewesen, um sich mit Priestern und Vertretern des Landsraads um die Pläne für Muad'dibs Bestattung zu streiten. Nun war Stilgar völlig erschöpft. Und dann diese lärmenden Pilger von anderen Welten! Sie drängten sich überall und ließen ihm keinen Raum, wo er in Ruhe nachdenken konnte.
Nachdem der Gesandte Shaddams IV. dem tragischen Unfall zum Opfer gefallen war, hatte Stilgar sich entschieden, endlich nach Sietch Tabr aufzubrechen, um ins unverfälschte Fremen-Leben einzutauchen. Er hoffte, sich dadurch zu reinigen, so dass er sich wieder real fühlte, als Naib und nicht als Zierrat an Alias Hof. Er unternahm die Reise allein und ließ seine Frau Harah in der Zitadelle zurück, damit sie sich um die Atreides-Zwillinge kümmern konnte.
Im Sietch Tabr bemerkte er jedoch viele Veränderungen, die ihn enttäuschten. Sie waren wie Sandkörner, die langsam an einer Düne hinunterrieselten. Jedes einzelne Korn war viel zu klein, um überhaupt bemerkt zu werden, doch insgesamt bewirkten sie enorme Verschiebungen. Nach so vielen Jahren des Djihads hatten Einflüsse von Fremdwelten die Fremen buchstäblich verwässert. Sie führten ein leichteres Leben und mussten nicht mehr um die bloße Existenz in der Wüste kämpfen. Und mit dem Luxus kam die Schwäche. Stilgar erkannte die Anzeichen. Er hatte die Veränderungen beobachtet und wusste, dass der Sietch ihm nicht mehr die Reinheit bieten konnte, nach der er strebte. Schließlich blieb er nur für eine Nacht.
Am nächsten Morgen ging er in aller Frühe in die offene Wüste hinaus und ritt einen mächtigen Wurm. Als der Gigant ihn zum Schildwall und nach Arrakeen zurückbrachte, fragte er sich, ob die Mutter Muad'dibs zur Bestattungszeremonie ihres Sohnes kommen würde. Jessica war eine vollwertige Sayyadina, und Stilgar hatte das Gefühl, dass der Wüstenplanet einen Teil seiner Seele verloren hatte, als sie beschlossen hatte, zu ihrer Wasserwelt zurückzukehren. Es wäre gut, sie wiederzusehen, obwohl sie sich zweifellos verändert hatte.
Vorsichtshalber würde er seine besten Fedaykin in Arrakeen versammeln, wo sie die Mutter des Messias gemeinsam mit Alias Wachen empfangen konnten – falls sie tatsächlich nach Arrakis kam. Jessica hatte keinen Pomp und Prunk nötig, aber eine Leibwache konnte sie gut gebrauchen.
Stilgar empfand seinen einsamen Ritt durch die Wüste als belebend und reinigend. Als er hoch oben auf den graubraunen Segmenten des Sandwurms saß, lauschte er dem Zischen der Sandkörner, auf denen der riesige Körper schlängelnd dahinglitt. Der heiße Wüstenwind streichelte Stilgars Gesicht – ein Wind, der mühelos die Spur auslöschte, die der Wurm hinterließ, ein Wind, der die Wüste wieder wie unberührt machte. Diese Erfahrung gab ihm das Gefühl, wieder er selbst zu sein, nachdem er den Klopfer gesetzt, den Wurm mit Haken und Klammern bestiegen und das Ungeheuer seinem Willen unterworfen hatte.
Seitdem Muad'dib fortgegangen war, um sich seinem Schicksal zu stellen, behaupteten die abergläubischen Fremen und die Menschen der Ebenen und Senken, dass er sich mit Shai-Hulud vereinigt hatte – buchstäblich und spirituell. In manchen Dörfern stellten die Bewohner seit kurzem leere Töpfe auf Regale oder in die Fenster, als Symbol dafür, dass Muad'dibs Wasser nie gefunden worden war, dass er sich mit dem Sand vermischt hatte, mit der Gottheit Shai-Hulud ...
Muad'dib war erst seit wenigen Stunden fort gewesen, als Stilgar von der süßen und trauernden Alia Befehle erhalten hatte, von denen er wusste, dass sie im Widerspruch zu Pauls Wünschen standen. Sie hatte sich die elementaren Glaubensvorstellungen des Naibs und sein Bedürfnis nach Rache zu Nutze gemacht, bis er sich selbst überzeugt hatte, dass der Gegensatz zu Muad'dibs Absichten lediglich ein Test war. Nach so viel Schmerz und Tod hatte Stilgar Blut an den Händen spüren wollen. Als Naib hatte er viele Männer getötet, und als Kämpfer in Muad'dibs Djihad hatte er ungezählte andere abgeschlachtet.
Daran hatte sich eine Nacht des Tötens angeschlossen, als die Einzelheiten der verwickelten Verschwörungen klarer wurden. Korba, ein tapferer Fedaykin, der zugelassen hatte, dass er innerhalb der Priesterschaft zu viel Bedeutung erlangte, war der Erste, der angeklagt wurde. Ein Rat aus Naibs der Fremen hatte ihn einstimmig schuldig gesprochen. Seine Hinrichtung durch Stilgars Hand war einfach, notwendig und blutig gewesen.
Aber Stilgar hatte noch nie zuvor einen Steuermann der Gilde getötet, genauso wenig wie eine Ehrwürdige Mutter der Bene Gesserit. Dennoch hatte er beides auf Alias Befehl hin ohne Zögern getan.
Der inhaftierte Navigator Edric hatte sich auf die Macht der Raumgilde berufen und sein Gewicht als offizieller Botschafter in die Waagschale geworfen, doch seine Unantastbarkeit gründete sich auf zivilisierte Rücksichtnahmen, die Stilgar nichts bedeuteten. Es war einfach gewesen, den Tank einzuschlagen. Als sich das Gewürzgas verflüchtigte und der Steuermann wie ein zerbrechliches Meeresgeschöpf, das an ein lebensfeindliches Ufer geschwemmt worden war, in sich zusammensackte, hatte Stilgar den gummiartigen Körper des Mutanten gepackt und ihm das knorpelige Genick gebrochen. Doch es hatte ihm keine Freude bereitet.
Die Bene-Gesserit-Hexe Mohiam war eine ganz andere Angelegenheit gewesen. Obwohl Stilgar ein großer Krieger der Fremen war, verfügte diese alte Frau über Fähigkeiten, die er nicht verstand, über furchterregende Möglichkeiten, die einen Angriff gegen ihre Person sehr schwierig machen konnten, hätte er nicht den Vorteil der Überraschung auf seiner Seite gehabt. Es gelang ihm nur deshalb, sie zu töten, weil Mohiam einfach nicht glauben wollte, dass er sich tatsächlich über Pauls Befehl hinwegsetzte, ihr keinen Schaden zuzufügen.
Um seine Aufgabe zu erfüllen, hatte er einen geschickten Vorwand benutzt. Dadurch war es ihm möglich gewesen, sie zu knebeln, damit sie nicht die Macht der Stimme gegen ihn einsetzen konnte, worauf die alte Hexe sich geschlagen gegeben hatte. Hätte sie geahnt, dass ihr Lebensgefahr drohte, hätte sie erbitterten Widerstand geleistet. Stilgar hatte nicht gegen sie kämpfen, sondern sie nur hinrichten wollen.
Nachdem die alte Frau geknebelt und ihre Hände an den Stuhl gefesselt waren, hatte sich Stilgar vor sie gestellt. »Chani – die Tochter von Liet und die Geliebte von Muad'dib – ist gestorben, nachdem sie Zwillingskinder zur Welt gebracht hat.« Mohiams leuchtende Augen weiteten sich. Offensichtlich wollte sie etwas sagen, doch der Knebel in ihrem Mund hinderte sie daran. »Der Ghola Hayt hat seine Indoktrination überwunden und sich geweigert, Paul Muad'dib zu töten.« Der Gesichtsausdruck der Hexe war ein wilder Gewittersturm, als ihr die verschiedensten Gedanken durch den Kopf zuckten. »Dennoch hat Muad'dib sich Shai-Hulud hingegeben, wie es von einem blinden Fremen erwartet wird.«
Stilgar zog sein Crysmesser aus der Gürtelscheide. »Jetzt liegt es an mir, Gerechtigkeit walten zu lassen. Wir wissen von deiner Mitwirkung an der Verschwörung.« Nun kämpfte Mohiam gegen ihre Fesseln an. »Der Gildennavigator ist bereits tot und Korba ebenfalls. Prinzessin Irulan wurde in eine Todeszelle geworfen.«
Er hörte das Geräusch reißender Fesseln ... vielleicht waren es auch brechende Handgelenkknochen. Jedenfalls gelang es Mohiam, eine Hand zu befreien. Sie fuhr zum Knebel hoch, doch Stilgars Crysmesser war schneller. Er stach es ihr in die Brust. Eine solche Wunde musste sofort töten, aber die Ehrwürdige Mutter bewegte sich weiter, zwang ihre Hand dazu, sich den Knebel aus dem Mund zu ziehen.
Stilgars Messer biss erneut zu. Es zerfetzte ihren Kehlkopf und schlitzte ihr den Hals auf, worauf die Hexe in sich zusammensackte. Er trat gegen den Stuhl und warf ihn mitsamt des toten Körpers um. Dann betrachtete er seine klebrigen Finger. Als er die milchweiße Klinge am dunklen Gewand der Ehrwürdigen Mutter abwischte, wurde ihm bewusst, dass das Blut der Hexe genauso aussah und roch wie das Blut jedes anderen Menschen ...
Es waren nicht die einzigen Hinrichtungen gewesen, die Alia angeordnet hatte. Es war eine lange und schwere Nacht gewesen.
Als sich der große Wurm nun der Lücke näherte, die Pauls Atomwaffen in den Schildwall gesprengt hatten, sah Stilgar die Barriere aus wassergefüllten Qanats, die kein Wurm überwinden konnte – und schon gar nicht ein so erschöpfter wie dieser. Es war besser, das Tier hier auf dem offenen Sand freizulassen. Er hatte schon so viele Sandwürmer geritten und wieder ziehen lassen, dass er irgendwann aufgehört hatte, sie zu zählen. Für einen Fremen war es jedes Mal ein gefährliches Unterfangen, die heiligen Geschöpfe über die Dünen zu manövrieren, aber es war nichts, wovor man sich fürchten musste. Sofern man die korrekten Handgriffe beherrschte.
Kurz vor der Lücke setzte er den Wurm in Bewegung, ließ sich an den rauen Segmenten hinabgleiten und stürzte in den Sand. Dann erhob er sich und blieb reglos stehen, damit das Tier ihn nicht bemerkte. Sandwürmer hatten keine Augen; sie konnten nur Bewegungen und Vibrationen spüren.
Doch das Geschöpf hielt inne und wandte sich in seine Richtung. Normalerweise entfernte sich ein Wurm, sobald sein Reiter ihn freigelassen hatte, in die offene Wüste oder grub sich in den Sand, um in der Tiefe zu schmollen. Dieser jedoch blieb, wo er war, und bäumte sich bedrohlich auf. Er hob den gewaltigen Kopf, der immer noch dem winzigen Menschen zugewandt war. Das Maul war eine runde Höhle, in der es von kleinen kristallinen Messerzähnen wimmelte.
Stilgar erstarrte in der überwältigenden Gegenwart des Geschöpfes. Es wusste, dass er da war, und doch bewegte es sich nicht auf ihn zu, griff ihn nicht an. Mit leichtem Zittern musste der Naib an die geflüsterten Gerüchte denken, denen zufolge Muad'dib in der Wüste mit Shai-Hulud eins geworden war. Der augenlose Kopf des Sandwurms schien ihn auf unheimliche Weise anzublicken, ähnlich wie Muad'dib. Obwohl er blind war, hatte dieser große Mann Stilgar mit seiner Fähigkeit der Vision sehen können.
Er spürte einen kalten Schauder. Etwas war anders. Er atmete langsam und formulierte die Worte in seinen Gedanken, wobei kaum ein Laut über seine Lippen kam. »Muad'dib, bist du hier?«
Es kam ihm absurd vor, doch das Gefühl ließ sich nicht abschütteln. Jeden Augenblick konnte der Sandwurm niederfahren und ihn verschlingen, aber er tat es nicht.
Nach mehreren langen, eindrücklichen Sekunden wandte sich das gigantische Wesen ab und glitt über den Sand davon. Stilgar blieb noch eine Weile zitternd stehen. Er beobachtete, wie sich das Geschöpf entfernte und eingrub, bis kaum noch eine Sandwelle verriet, dass es hier gewesen war.
Mit einem ehrfürchtigen Kribbeln fragte sich Stilgar, was er eigentlich soeben erlebt hatte. Dann rannte er mit wohlgeübten Stolperschritten über die Dünen auf den Schildwall und die dahinter liegende große Stadt zu.